Lotta und die Schneefamilie
Im Zwergenland hatte Frau Holle tüchtig ihre Betten
ausgeschüttelt. Wie eine dicke Daunendecke lag der Schnee
seit Tagen im Vorgarten von Lotta, einem Zwergenkind. Der
Gartenzaun hatte sich weiße Häubchen aufgesetzt und der
Bach neben dem Haus gluckerte unter dem Eis, als erzähle er
sich selbst ein Märchen.
Lotta hatte sofort einen Schneemann gebaut, so gut sie es mit
ihren zehn Jahren konnte. Einen dicken, weißen Kerl mit
einem alten Kochtopf auf dem Kopf. Um den Hals trug er eine
Krawatte und in seinem pausbäckigen Gesicht steckten zwei
Walnüsse als Augen und eine ellenlange gelbe Mohrrübe.
Kaum war Lotta im Haus, weil es draußen dunkelte, klopfte es
am Küchenfenster. Dort stand der neuerbaute Schneemann
und hob grüßend seinen Kochtopf.
„Bitte Lotta, bau mir doch noch eine Frau. Ich fühle mich hier
Draußen so einsam. Mach sie schön rund und appetitlich
kalt!“
Lotta war kein bisschen erstaunt, dass der Schneemann
sprechen konnte und ihren Namen wusste.
„Das kannst du gerne haben, aber erst morgen“, versprach sie
ihm.
Anderntags baute ihm Lotta eine Schneefrau. In ihren Augen
war sie wunderschön geworden. Auf dem Kopf trug sie ein
buntes Kopftuch mit Fransen, an denen kleine Glöckchen
bimmelten. Der Schneemann konnte es kaum erwarten,
seiner Schneefrau die Hand zu reichen. Die beiden tauschten
sofort Nordpolküsse aus. Hand in Hand standen sie
nebeneinander und die Walnussaugen des Schneemanns
glänzten vor Glück.
Wieder wurde es draußen dunkel. Da stand die Schneefrau
vor dem Küchenfenster, klopfte und seufzte:
„Liebe Lotta! Ach, schenk uns doch noch ein Schneekind.
Dann wäre unser Glück perfekt!“ Auch diesen Wunsch erfüllte
ihnen Lotta am anderen Tag. Eilig formte sie aus dem
weichen Schnee ein lustiges Schneekind und stellte es
zwischen die Eltern, die nun stolz auf ihren Sprössling
hinabblickten.
Noch nie waren Lotta die Schulaufgaben so schwer gefallen
wie an diesem Tag. Immer wieder musste sie auf ihre
Schneefamilie schauen. Ein wenig tat es ihr leid, dass sie die
Drei nicht noch schöner erschaffen hatte. Der Kopf des
Schneemanns war rund wie ein Fußball und seine Schneefrau
war plump und hatte überhaupt keine Taille. Das Schneekind
hatte Ohren wie ein Elefant und Füße, wie ein watschelnder
Pinguin und auf dem Kopf diese uralte Gießkanne. Einfach
schrecklich! Aber die Schneefamilie war glücklich und das war
die Hauptsache.
Tagsüber standen sie stocksteif im Vorgarten, aber wenn es
dunkel wurde, erwachten sie zum Leben. Dann klingelten die
Glöckchen lustig am Kopftuch der Schneefrau. Manchmal
sah das Zwergenkind zu, wie sie tanzten, oder sich mit
Schneebälle bewarfen. Eine richtig, ausgelassene
Rasselbande.
Ein Kalenderblatt nach dem anderen riss Lotta ab. Und die
Tage wurden länger. Im Februar dachte sie immer öfter daran,
dass der Winter nicht ewig bleiben konnte! Was würde dann
mit ihrer Schneefamilie geschehen!
Wie in jedem Jahr wurde im Zwergenland ein Fest
veranstaltet, um den Winter zu vertreiben. Dieses Vergnügen
war für alle da. Auch die Zwergenkinder durften sich
verkleiden, mit allem, was sie besaßen. Danach zog eine
lustige Gesellschaft durchs Dorf, hinauf in den Tanzsaal, um
bei Musik den Winter endgültig zu verabschieden. Auch Lotta
war dabei. Als sie verkleidet an der Schneefamilie vorbeikam,
flüsterte der Schneemann ihr zu:
„Pssst! Lotta, wie siehst du denn aus und wo gehst du hin?“
Lotta brachte es nicht übers Herz zu sagen: „Ich feiere heute
die Verabschiedung des Winters!“, das hätte die
Schneefamilie sicher sehr traurig gemacht!
“Zum Tanzen“, sagte sie schnell. Da könnt ihr nicht mit. Das
ist nichts für euch!“
Enttäuscht blickten ihr die Schneeleute nach.
„Ach, ich würde auch so gerne zum Tanzen gehen“, seufzte
die Schneefrau, oder nur mal in den Saal hinein schauen!
Warum geht das denn nicht?“
Traurig blickten ihre Walnussaugen.
„Kommt!“, sagte ihr Mann entschlossen. Sie nahmen ihr
Schneekind in die Mitte und hopsten alle drei im Takt der
Musik, die ihnen immer näher zu rücken schien, entgegen.
Zuerst blinzelten sie nur vorsichtig durch ein Fenster. Doch
plötzlich drängte eine größere Gruppe sie fröhlich in den Saal
mit hinein.
Als die Schneefamilie entdeckt wurde, vergaß die Kapelle
weiterzuspielen. Überrascht schauten alle auf die weißen
Gestalten und klatschten Beifall.
„Seht doch mal, wie echt die ausschauen“, riefen sie einander
zu.
Im Saal war es warm. Das Schneekind fing sofort an zu
schwitzen und seine Mutter japste nach Luft. Als Lotta die
weiße Gruppe erblickte, eilte sie sofort auf sie zu.
„Ihr seid unvernünftig! Könnt ihr so viel Wärme überhaupt
vertragen?“, fragte sie besorgt.
„Ein Weilchen schon“, sagte das Schneekind tapfer.
„Komm, wir tanzen eine Runde“, sagte Lotta rasch und zog
das Schneekind auf die Tanzfläche. Der Schneemann und
seine Frau drehten sich schon im Takt der Musik, die wieder
zu spielen begonnen hatte. Lotta schwenkte das Schneekind
lustig herum. Und wo immer sie vorbei wirbelten, spürten die
Zwerge im Saal den herrlichen Duft des Schnees. Das
Schneekind bemerkte nicht sofort, was mit ihr geschah. Es
gab ja so viel zu bewundern. Ganz langsam begann sie zu
schmelzen. Dann jedoch drehte sich alles vor seinen Augen
und es wurde ihm komisch zumute.
„Lotta, ich tropfe“, flüsterte es ängstlich. Die Zwerge begannen
sich zu wundern: “Schaut nur, der Tanzboden ist plötzlich
überall nass!“
Sofort brachte Lotta das Schneekind hinaus in die Kälte, um
danach die Schneeeltern zu holen. Draußen nahmen sie ihr
benommenes Kind huckepack und eilten zurück in ihren
sicheren Vorgarten.
„Aber schön war es doch“, sagten sie am anderen Tag, „und
so lustig.“
Und wenn die Sonne noch nicht an ihnen schleckt, dann
stehen sie heute noch, tanzen, lachen und bewerfen sich mit
Schneebällen.
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